Anna Stern »blau der wind, schwarz die nacht.«

Anna Stern »blau der wind, schwarz die nacht.« - Leseprobe

rosette.

nicht schon wieder, sagt valemon, das kommt sehr ungünstig. das letzte mal ist drei monate her, denkt rosette, sagt dann stattdessen jedoch, ich weiß, es tut mir auch leid. sie hustet einmal richtig schön laut, ich muss mich bei alex angesteckt haben, sie war doch letzte woche krank. jedenfalls habe ich fieber und kopfschmerzen und dann eben dieser husten. sie hustet noch einmal in den telefonhörer. so, ja, dann also, schau, dass du nächste woche wieder gesund bist, wir haben viel zu tun, sagt valemon und beendet den anruf. blödmann, sagt rosette zum hörer, arschloch. sie legt das telefon auf die station zurück, zieht mantel und stiefel und stirnband aus, geht in sophies altes zimmer, das ihr und eno jetzt als ankleidezimmer dient, und beginnt zu packen. die nachricht kam, als sie zur arbeit gehen wollte: ein qr-code, eine uhrzeit, eine gleisnummer, dazu 2h 24min und smart casual. nur das, doch mehr braucht rosette auch gar nicht, um zu wissen, was zu tun ist; und dass es eilt. sie fischt die kleine reisetasche aus leder vom obersten schrankfach, legt unterwäsche für drei tage hinein, ein nachthemd, die dunkelblaue wollhose und die bluse aus reiner seide, die culotte-hose in schwarz und den merinorollkragenpulli. sie packt im bad, was sie braucht, und holt das buch von ihrem nachttisch. sie schlüpft wieder in den ziegelroten mantel und ihre stiefel, macht das licht im eingang aus und geht. als rosette am bahnhof zum gleis hinaufsteigt, vermeidet sie den blick auf die abfahrtstafel, und als der lautsprecher die zugeinfahrt ansagt, hält sie sich die ohren zu, so gut es geht, wo wäre sonst der witz. der mann, der neben ihr wartet, wirft ihr seltsame blicke zu und entfernt sich einige schritte von ihr. soll er doch, denkt rosette und streckt ihm in einem anfall von übermut die zunge raus, wenn der wüsste. der zug fährt an einem fluss entlang, durch täler und zwischen bergen hindurch. rosette schaut aus dem fenster und hält sich während der ansage der bahnhöfe wieder die ohren zu. als sie dem kontrolleur ihr telefon mit dem qr-code hinhält, sagt er, es hätte ein günstigeres ticket gegeben, und will ihr zeigen, wie sie in der app die billigsten angebote findet. ich habe keine app, sagt rosette und fügt, um dummen fragen zuvorzukommen, an, mein mann hat mir das ticket gekauft. ach so, sagt der kontrolleur, na dann, ich wünsche eine gute reise. als sie nach zwei stunden und vierundzwanzig minuten aufsteht und aussteigt, ist sie die einzige, die den zug verlässt. sie erkennt den ort, den see, der sich hinter dem bahnhof nach norden erstreckt. sie sieht sich um, wundert sich kurz, was jetzt, wohin, wie weiter. sie stellt die tasche ab und blickt auf das wasser hinaus, was soll ich hier, denkt sie, du weißt doch genau. die luft ist eisig kalt und klar und der see ist schmal: das andere ufer scheint greifbar, nur einen sprung, einen schritt entfernt. die villen versteckt in den gärten, der wald darum herum, und das sanatorium, das sich leuchtend weiß gegen das dunkle grün des hangs abhebt. sie kann die fenster zählen, schwarz auf weiß, das dritte von links im zweiten stock. julius. all die jahre. du weißt doch genau. doch dann ist da auch schon eine stimme hinter ihr, die wissen will, ob sie rosette martin sei: ich bin gekommen, um sie abzuholen. rosette folgt dem mann zum wagen – ein zweiundfünfziger bentley r-type continental, wie der chauffeur in schwarzem anzug und weißem hemd, schlips und handschuhe und schirmmütze tragend, sie ungefragt aufklärt – und lässt sich ins weiche leder der rückbank sinken, die reisetasche neben sich. der weg führt den hügel hinauf, kurve um kurve erheben sie sich über den kleinen ort, über das von weißen wellenkämmen gezierte stahlblau des sees dem kalten winterblau des himmels entgegen. bald wird die fahrbahn schmaler und links und rechts stehen mächtige bäume, noch laublose eichen und linden und kastanien und nadelbäume, die rosette im vorbeifahren nicht näher bestimmen kann. dann werden sie vor einem großen tor langsamer. rosette setzt sich auf, während flügel sich öffnen, und unter ihnen geht der asphalt in kies über. die bäume bleiben mächtig, bleiben laublos, doch zwischen ihnen rollt nun ein teppich aus sattem grün über die sanften hügel, nicht mehr waldiges unterholz. nach drei weiteren kurven durch die englische parkanlage hält der chauffeur auf einem weiten, von buchskugeln gesäumten kiesplatz an und steigt aus. er öffnet rosette die tür mit einer galanten verbeugung und sagt, da wären wir: ich wünsche einen freudvollen aufenthalt. rosette stellt die tasche ab und blickt mit offenem mund an dem gebäude empor, das sich schneeweiß vor ihr erhebt, sich in alle richtungen zu erstrecken scheint. grün winden sich efeuranken an der fassade hinauf bis zu den treppengiebeln, bis zu den fenstern des turms, der in der mitte der asymmetrischen schlossflügel trohnt. dass es so einen ort hier geben kann, denkt sie, dass ich davon nichts gewusst habe. herzlich willkommen, frau martin, begrüßt die junge frau an der rezeption sie, ich hoffe, die reise verlief angenehm. rosette nickt bloß und sieht sich um, die weißen wände, der schwarze schieferboden, das holz, die ruhe, das licht. warum, fragt sie sich, womit habe ich das. sie haben zimmer dreihundertvierzehn, sagt die frau, die vero heißt, wie rosette jetzt auf dem namensschild an ihrer brust liest, kommen sie, ich zeige ihnen den weg. rosette folgt ihr durch das foyer und an einer mächtigen steintreppe vorbei, der handlauf aus geschnitztem holz wie gold. sie haben ein zimmer mit blick auf den park und im gourmetarrangement, sagt vero, während rosette stehen bleibt und fasziniert über das geländer streicht, so warm und weich scheint es ihr, alles so gar nicht wirklich. sie gehen weiter und zweigen dann in einen schwarz-weiß gefliesten korridor ab. so, da wären wir, sagt vero und schließt die schwere holztür am ende des gangs für rosette auf, einzelheiten zu den mahlzeiten und den gebuchten extras finden sie in ihrer persönlichen aufenthaltsbroschüre auf dem nachttisch. bei fragen oder falls sie ein feuer im kamin wünschen, dürfen sie sich jederzeit melden. ich wünsche einen angenehmen aufenthalt, sagt vero und lässt rosette allein. sie stellt ihre tasche auf dem dunklen versaillesparkett ab, schlüpft aus stiefeln und mantel und wirft sich auf das weiche, weiße doppelbett. ein kamin. in einem hotelzimmer. gourmetarrangement, gebuchte extras und englischer park. sie grinst, sie drückt ihr gesicht ins kissen, sie fragt wieder, womit habe ich das, womit habe ich das bloß verdient. sie setzt sich auf und will gerade einen blick in ihre persönliche aufenthaltsbroschüre werfen, als es an der tür klopft. frau martin, sagt jemand, zimmerservice. rosette wundert sich schon gar nicht mehr, sie öffnet die tür und nimmt das in weißes seidenpapier eingeschlagene paket entgegen, das ein angestellter des hotels ihr reicht, zusammen mit der nachricht nur für den fall. nur für den fall, sagt rosette, während der mann schon wieder verschwunden ist, ach so, ich verstehe, nur für den fall. zurück auf dem bett schwankt sie für einen augenblick – paket oder broschüre, broschüre oder paket –, macht sich dann jedoch daran, das dunkelgrüne seidenband von letzterem zu lösen. sie schlägt das papier zurück, findet ein einfaches schwarzes t-shirt, eine trainingshose, wie sie sie auch zu hause hat, und ein fein geripptes schwarzes badekleid in ihrem schoß. sachen gibts, sagt sie, legt die kleider neben sich aufs bett und nimmt die aufenthaltsbroschüre zur hand. herzlich willkommen im historisch-modernen romantikzimmer mit parkblick, steht da. das zimmer verfügt über direkten zugang zum türkisen bad, das zusammen mit der sauna zwischen 18 und 24 uhr ihnen allein gehört. das gourmetarrangement beinhaltet ein saisonales fünf-gang-gourmet-dinner bei kerzenschein und ein privates frühstücksbuffet im turmzimmer. das gebuchte aufenthaltspaket gewährt ihnen nach wunsch und ohne aufpreis zugang zu den führungen durch schloss und parkanlage sowie zu den yoga-lektionen mit blick auf den kräutergarten und die verschiedenen massagen im angebot unserer ärztlich diplomierten masseurin. wir wünschen einen erholsamen aufenthalt und hoffen, dass sie sich bei uns wohlfühlen. ach so, sagt rosette mit blick auf das seidenpapierpaket und lacht, für den fall, du bist mir einer, du. sie klettert vom bett und verlässt nach einem blick durch die verbindungstür ins türkise bad ihr romantikzimmer auf der suche nach der bar, wo ihr, laut broschüre, ein willkommensapéro zusteht, mit bio-prosecco aus dem hauseigenen rebberg und häppchen mit schafsund ziegenkäse von nebenan. anschließend kehrt sie auf ihr zimmer zurück und legt sich hin. sie hat nichts gemacht den ganzen tag und doch ist sie müde, und nun liegt sie hier in diesem schloss und alles ist wie ein traum. das mittagessen mit julius fällt ihr ein. wahrscheinlich kommt die erschöpfung daher. von der anspannung, die jedes treffen mit ihm mit sich bringt. und die erleichterung im anschluss, wenn alles gut gegangen ist, trifft immer zusammen mit dieser müdigkeit ein. rosette schiebt den gedanken an julius weg und denkt stattdessen daran, wie sie eno von diesem traum hier erzählen wird. dann fällt ihr ein, dass sie das nicht kann, und bevor sie einschläft, denkt sie einmal mehr, dass dies das einzig störende ist an diesem arrangement. als sie erwacht, ist es bereits zeit fürs abendessen. sie zieht jeans und bluse aus und die schwarze hose und den rollkragenpullover an. bevor sie das zimmer verlässt, steckt sie sich den fingerring mit dem nephrit an und legt sich vor dem spiegel die lange perlenkette zweimal um den hals. der kellner begleitet sie zu einem tisch im hinteren bereich des speisesaals, der blick aus dem fenster führt in die dunkle winternacht. sie setzt sich, bestellt wasser und ein glas wein und nimmt die menukarte zur hand. rosette befürchtet zuerst, fünf gänge könnten viel zu viel sein, doch die portionen sind klein und die speisen leicht. es ist fast unheimlich still im saal, der nur vom licht der kerzen auf den tischen erhellt wird. sie ist nicht allein, doch die tische stehen weit auseinander, viele gäste sitzen ebenfalls allein oder nur zu zweit, und die unterhaltungen werden gedämpft geführt. aus der bar ist leise klaviermusik zu hören, jazz, erkennt sie, doch eno würde es sicher genauer wissen. während des essens achtet rosette nicht sonderlich auf die anderen gäste. ein mann, der schräg gegenüber von ihr auf der anderen seite des saals sitzt, fällt ihr auf. er tut nichts, um ihre aufmerksamkeit zu erregen, verhält sich still und liest zwischen den gängen in einem buch, das neben seinem teller auf dem tisch liegt. was rosette ins auge sticht, ist sein dunkler lockenkopf, ist mehr vielleicht noch seine kleidung, sind seine schwarzen hosen, der schwarze rollkragenpullover und die perlweiß-grün geringelten socken in den ausgetretenen schwarzen lederschuhen. der kellner bringt den hauptgang und eine frische flasche wasser. rosette sieht erst jetzt, von welcher quelle das wasser ist, und ihr wird schlecht, wenn sie daran denkt, dass sie davon getrunken hat. das weiße etikett mit dem grau-blauen aquasana-schriftzug und dem stilisierten klinikgebäude darauf: sie trinkt dieses wasser nicht, nicht mehr. der gedankengang dahinter mag für andere trivial erscheinen, nicht aber für sie.

 

der gedankengang dahinter mag für andere trivial erscheinen, sagt eno, nicht aber für ihn. es ist pfingsten, und rosette und er sitzen im garten des sanatoriums und warten auf julius. wir warten seit über zwei stunden, sagt rosette, er soll sich nicht so anstellen. sie steht auf und beginnt, im schatten der großen eiche ungeduldig hinund herzugehen. sie sind früh von zu hause losgefahren, um wie vereinbart um neun im ort anzukommen. nach einem kurzen gespräch mit den behandelnden ärzten, bei dem die bedingungen für den heutigen ausgang besprochen wurden, sagte julius, er müsse noch einmal auf sein zimmer, um etwas zu holen. er verschwand die treppe hinauf, und seither warten rosette und eno. julius sei immer noch auf seinem zimmer, ließ die für ihn zuständige betreuerin sie wissen, als sie ihnen eben zwei kleine flaschen mit wasser brachte, aquasana steht auf der banderole: aus der hauseigenen quelle, wie sie betonte. was kann es denn sein, sagt rosette und verwirft die arme, was kann ihn daran hindern, jetzt einfach rauszukommen. ich weiß es nicht, sagt eno. er legt seine hände auf rosettes schultern, beruhig dich, sagt er, es kommt schon gut. er nimmt sie in den arm und küsst sie auf den kopf. nichts kommt gut, sagt rosette gegen seine brust, er riecht nach harz und rauch und frischer minze, nichts kommt je wieder gut. schhhh, sagt eno, sei nicht so hart zu ihm, sei nicht so hart zu dir selbst.

 

der kellner sagt, natürlich, wie sie wünschen, frau martin, und bringt ihr eine karaffe mit leitungswasser. rosette bedankt sich und tupft sich mit der serviette den mund ab. der große mit winterranden gefüllte raviolo mit mohn-limetten-butter hat wie die anderen gänge hervorragend geschmeckt, und eigentlich ist sie jetzt satt. sie bittet den kellner, mit dem nachtisch noch etwas zu warten, und denkt dann an eno, der immer sagt, beim dessert gehe es nicht um satt oder nicht satt, sondern einzig und allein um gelüste, um lust auch, und er müsse, falls nötig, halt einfach in der speiseröhre warten, bis im vollen magen wieder genug platz sei. sie schaut aus dem fenster auf den dunklen park hinaus. große laternen flackern zwischen den büschen und bäumen und grob geschnitzten skulpturen aus holz. am frühen abend hätte es eine führung zu den skulpturen gegeben, eine künstlerin aus der region hat sie aus bäumen geschnitzt, die im schlosspark altersoder krankheitshalber gefällt werden mussten. doch zwischen bio-prosecco und einschlafen und aufwachen und abendessen ging dieser programmpunkt vergessen, und rosette denkt, dass sie sie sich ja immer noch morgen ansehen kann oder übermorgen. darf ich mich zu ihnen setzen. rosette dreht sich um, vom fenster weg dem mann zu, der mit dieser frage an ihren tisch getreten ist. es ist der mann in schwarz mit dem lockenkopf und den ringelsocken, der da steht, sein weinglas und sein buch in der hand, und rosette sagt ohne zögern, ja, bitte, nehmen sie nur platz. kaum hat er sich rosette gegenüber hingesetzt, bringt der kellner auch schon eine neue flasche wein. ich war so frei, sagt der mann und lacht rosette an, lacht sie nur mit den dunklen augen an. er hält dabei den kopf gesenkt, leicht zur seite geneigt, rosette weiß nicht recht, ob verlegen oder spitzbübisch oder frech seinen gesichtsausdruck am besten beschreibt. wie hat ihnen das menu geschmeckt, fragt er. hervorragend, sagt rosette, ich habe schon lange nicht mehr so gut gegessen. mir geht es ähnlich, sagt er, man gönnt sich selbst viel zu selten etwas. die lauchsuppe hat mir besonders geschmeckt, sagt rosette. eindeutig ein gaumenschmaus, sagt er, ich muss unbedingt den koch um das rezept bitten, sodass ich die suppe für meine frau nachkochen kann. für ihre frau, sagt rosette in fragendem ton. ihr ist aufgefallen, dass er üblicherweise einen ring trägt, diesen aber kürzlich ausgezogen hat: ein feines band käsig weißer haut windet sich an seiner statt um seinen ringfinger. sie mag lauchsuppe normalerweise nicht, antwortet er, doch ich wette, diesem rezept würde sogar sie verfallen. mit mir müssen sie nicht wetten, sagt rosette und ist erstaunt über die geschwindigkeit, mit der dieses gespräch fahrt aufgenommen hat, ich bin ja nicht ihre frau. ein jammer, sagt er, was wäre das für eine schöne welt. rosette schmunzelt und schüttelt den kopf. eindeutig nicht verlegen, eindeutig spitzbübisch und frech: was für ein schauspieler, was für ein charmeur. was lesen sie, fragt sie und nickt mit dem kinn zu dem buch, das mit dem titel nach unten neben ihm auf dem tisch liegt. das debut einer jungen autorin, sagt er, ohne den namen zu nennen, man muss wissen, was der nachwuchs so treibt und schreibt. nachwuchs, fragt sie, das ist nicht etwa das buch ihrer tochter. nein, sagt er und schüttelt den kopf, was die locken zum tanzen bringt, ich schreibe selber, deshalb nachwuchs, sie wissen schon. er trinkt sein glas aus, schenkt nach einem fragenden blick zuerst ihr, dann sich selber nach. wenn sie mir sagen, wie sie heißen, sagt sie, kann ich ein buch von ihnen lesen: man muss auch wissen, was die reifere generation so treibt und schreibt. er lacht und sagt, wie ich heiße, oder wie ich mich nenne, das ist ein kleiner, aber feiner unterschied. ich hoffe, sagt sie, in ihren texten gehen sie sparsamer um mit solch leeren phrasen: klein, aber fein, gaumenschmaus, sich etwas gönnen. warum, mögen sie das nicht. nein, sie saugen einem text alles leben aus. phrasen als blutegel, was für ein schönes bild. sie können es ja in ihrem nächsten buch verwenden. und ihnen dieses widmen. warum nicht, es gibt schlimmeres, als einen text gewidmet zu bekommen. das klingt, als sprächen sie aus erfahrung. das wüssten sie jetzt gern, doch eine frau muss ihre geheimnisse wahren. da werde ich ja beinahe eifersüchtig. worauf, auf meine geheimnisse, auf den mir möglicherweise gewidmeten text oder gar auf den unbekannten urheber, die urheberin hinter dem mir möglicherweise gewidmeten text. ich sehe, sie wollen sich nichts entlocken lassen, so wird das ganz schön kompliziert. was kompliziert und warum, um mir einen text zu widmen, müssen sie nicht über meine frühere widmungserfahrung bescheid wissen. ich muss dafür aber ihren namen kennen. sie müssen dafür vor allem zuerst den text schreiben. frau, ich gebe mich geschlagen, sagt er, verwirft die arme und stößt dabei die noch halb volle karaffe mit wasser um. kurz nach diesem zwischenfall ziehen sie in die bar um, wo sie die einzigen gäste sind. rosette, sagt sie, ich heiße rosette. die ledersessel sind weich, auch hier gibt es nur kerzenlicht, und der pianist spielt weiter leise jazz. der kellner nähert sich, stellt zwei espressi und einen teller mit einem großen stück des schokolade-pinienkern-kuchens, den es zum nachtisch gab, auf den loungetisch zwischen ihnen. natürlich, sagt er, und mein name ist martin. wie einfallslos, denkt sie, alles andere ist so sorgsam ausgedacht und dann das: martin. die enttäuschung muss in ihrem gesicht lesbar gewesen sein, denn martin sagt, was, gefällt ihnen der name nicht. das ist es nicht, nur. nur was, fragt er, sie können mich auch albert nennen, oder ludwig, wenn ihnen das lieber ist. nein, sie schüttelt den kopf, nicht ludwig, nicht albert, keinesfalls.

 

es geht auf mittag zu, als frau doktor albertin, die für julius zuständige ärztin, zu rosette und eno in den garten des sanatoriums tritt. es ist so, sagt sie, julius geht es gut, er braucht nur noch etwas zeit, ich habe eben mit ihm gesprochen, und wir haben vereinbart, dass er spätestens in einer halben stunde aus seinem zimmer kommt. eine halbe stunde, wiederholt sie und fügt an, das sind dreißig minuten, dreißig minuten genau. ist das alles, was sie ausrichten können, sagt rosette, wir wissen, wie viele minuten eine halbe stunde hat, besten dank. herr doktor ludwig hat gesagt, beginnt die junge ärztin verunsichert, spricht jedoch nicht zu ende. eno hat rosette eine hand auf den arm gelegt, entschuldigen sie, sagt er zur ärztin, wir warten natürlich, danke für ihre bemühungen. bemühungen, bemühungen, sagt rosette, als die junge frau wieder im klinikgebäude verschwunden ist, ihre ganzen bemühungen helfen auch nicht viel weiter. in einer halben stunde ist es schon fast mittag, wir müssen im restaurant anrufen und die reservation absagen. das machen wir, sagt eno, und dann essen wir anderswo, es gibt auch noch andere restaurants als das oben auf dem berg.

 

martin ist gut, sagt sie, martin ist bestens. dann duzen wir uns nun, bietet er an. ich finde das sie eigentlich ganz apart, sagt sie, wenn es sie nicht stört. nein, keineswegs, sagt er und geht nahtlos über zu, wissen sie, was mich fasziniert, mich faszinieren namen, die es im anderen geschlecht nicht gibt. warum gibt es

 

martin und martina, albert und alberta, ja fabian und fabienne, aber nicht rosette und rosetto. oder hannah und hannoh. es gibt gabriel und gabriela, julius und julia, doch was ist das männliche pendant zu zita, die weibliche entsprechung von ludwig, warum gibt es sie nicht. lassen sie uns das thema wechseln, sagt rosette, bitte. warum, langweile ich sie, fragt martin, nimmt die einzelne gabel zur hand, die der kellner ihnen gebracht hat, sticht ein stück kuchen ab und isst. ich wundere mich ja bloß, sagt er mit vollem mund, nehmen sie zum beispiel zita, es gibt keinen zito. zita, sagt sie, woher kommt ihre fixation auf zita. kaiserin zita von österreich, sagt er, sticht erneut vom kuchen ab und hält ihr die gabel über den tisch hinweg hin, das schloss hat einmal louise von bourbon-parma gehört, ihr ist der englische park zu verdanken, und zita war ihre enkelin und hat nach dem ende der österreichisch-ungarischen monarchie einige monate hier mit ihren kindern im exil gelebt. was sie nicht alles wissen, sagt sie und öffnet den mund. der kuchen schmilzt auf ihrer zunge, ohne dass sie zu beißen braucht, selbst die pinienkerne zerfallen beim feinsten druck gegen den gaumen. das steht in der berühmten aufenthaltsbroschüre, sagt er und zuckt mit den schultern, man muss sie bloß lesen. ach, sagt sie, war ihnen ihr buch nicht spannend genug. von wegen, sagt er, das leben bietet momentan alle spannung, die ich mir wünschen kann.

 

es ist, sagt rosette nach einem weiteren blick auf die uhr zu eno, als seien wir kinder und warteten auf das christkind, auf den osterhasen: ich glaube, damals war ich zuletzt so angespannt, so angewiesen auf spannung im leben. und wahrscheinlich, fügt sie matt hinzu, ist die hoffnung, dass julius in vier minuten tatsächlich auftaucht, ebenso bloßes wunschdenken, wie es damals die sichtung von christkind und osterhase war. doch als julius aus dem klinikgebäude in den garten tritt, zeigt ein verstohlener kontrollblick: eine halbe stunde sind dreißig minuten sind: julius ist da. eno steht auf und reicht julius die hand: der sohn will nicht umarmt werden. schön, dich zu sehen, sagt eno. auch rosette streckt die hand aus. sie fragt, was machen wir jetzt, für eine wanderung auf den berg ist es zu spät und ich will nicht hier, das sanatorium widert mich an, entschuldigt, ich muss hier raus. sie gehen los, ohne sich entschieden zu haben. das sanatorium liegt mitten in dem kleinen ort, oberhalb des bahnhofs und mit blick auf den see. es ist kurz vor mittag und die straßen, über denen die frühe sommerluft heiß flirrt, sind leer. aus den großen gärten, in denen die villen zurückversetzt und hinter sträuchern und bäumen versteckt nicht sichtbar sind, ist kaum ein geräusch zu hören. nicht einmal vögel, denkt rosette, als sie einige schritte hinter eno und julius hergeht, nicht einmal vögel gibt es hier, alles ist tot. nur bewässerungsanlagen versprühen still feuchtigkeit, und ein schwacher luftzug bewegt ein windspiel irgendwo. ihr fallen die vielen nadelbäume auf, die zwischen abscheulichen, lila und süß rot blühenden rhododendren in den gärten stehen. die bäume sind riesig, und es sind nicht einfache tannen oder fichten, die würde sie sofort erkennen. sie fragt sich, woher diese örtliche häufung an nadelbäumen kommt, ob es eine zeit gab, in der es bei leuten dieser gehaltsklasse hip war, seltsame nadelbäume im garten zu haben: eine neue form der pteridomanie, wie zu zeiten königin victorias. ob nun statussymbol oder nicht, vor allem sind die gärten hässlich: akkurat gestutzter, steriler englischer rasen zwischen den allgegenwärtigen rhododendren; kleine teiche mit gelben seerosen und orangen goldfischen und fröschen und enten aus glasiertem ton am ufer; steinwüsten, in denen das einzige anzeichen von leben formgeschnittene buchsund eibenbäume sind. die einsicht, dass ein übermaß an geld scheinbar nicht mit dem vorhandensein von gutem geschmack korreliert, bringt rosette an diesem samstagmorgen einiges an befriedigung. und wahrscheinlich sehen die riesigen häuser innen genauso stillos aus, sind genauso tot. nicht einmal vögel, denkt sie wieder, nur das wasser der springbrunnen in den teichen plätschert und die rasenmäherroboter robotern weiter, als gäbe es nichts, als gäbe es nie.

 

als rosette am samstagmorgen aufwacht, ist sie allein. sie streckt die hand unter der decke aus, das bett ist auf der anderen seite noch warm, das kopfkissen riecht nach salbei und harz und rauch und muskat. und fremdem schweiß. sie bleibt noch einen augenblick liegen, ausgeschlafen, müde, zufrieden, irgendwie leicht und schwer zugleich. der blick aus dem fenster geht auf einen klaren, kalten winterhimmel. der wind treibt die weißen wolken zügig über das blau, und das flache sonnenlicht verfängt sich in den laublosen kronen der mächtigen bäume. dass es so etwas gibt. sie schlägt die decke zurück und geht ins bad. auf dem boden liegen noch die feuchten handtücher von gestern: das zimmer verfügt über direkten zugang zum türkisen bad, das zusammen mit der sauna zwischen 18 und 24 uhr ihnen allein gehört. rosette lässt sie für den zimmerservice liegen und steigt in die dusche.


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Anna Stern 
blau der wind, schwarz die nacht. 
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